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Geschlechtsdefinitionen: Drei Varianten und ihre Konflikte

Der Versuch, eine sachliche Abwägung verschiedener Geschlechterverständnisse zu wagen und die langfristigen Konsequenzen ihrer Durchsetzung zu untersuchen.


VON GABRIEL BAUER


Im modernen Sprachgebrauch existieren drei verschiedene Sprachverständnisse dessen, was es bedeutet, dieses oder jenes Geschlecht zu besitzen:


- Das biologische Verständnis, das auf der Einteilung in verschiedene Geschlechter aufgrund biologischer Unterschiede basiert.

=> Entscheidend ist das biologische Geschlecht (der Sexus) des Individuums.

- Das kulturelle Verständnis, das verschiedene Geschlechter mit objektiven, das sozialverhalten-beschreibenden Rollen in der Gesellschaft verknüpft.

=> Entscheidend sind Verhalten, Status und Rolle des Individuums (das ,,soziale Geschlecht“ oder engl. Gender (role)).

- Das individualistische Verständnis, das jedes Individuum selbst entscheiden kann, welches Geschlecht es besitzt.

=> Entscheidend ist die Geschlechtsidentität (eng. Gender Identity) des Individuums.


Auf welcher Basis diese Verständnisse basieren, welche Konflikte ihr Aufeinandertreffen erzeugt und welche Konsequenzen ihre jeweilige Durchsetzung für unsere Gesellschaft und unsere Sprache bedeuten würde, sind die Themen dieses Artikels.


Der Sexus, ein gesellschaftliches Produkt?


Unser Sexus ist uns angeboren und wird anhand verschiedener biologischer Faktoren bestimmt, doch erfolgt diese Zuweisung keineswegs so eindeutig, wie wir gemeinhin denken, wie Dr. phil. und Dipl. Biol. Heinz-Jürgen Voß erläutert:

,,Die aktuellen Geschlechter Beschreibungen biologischer Forschung […] stellen nur eine Momentaufnahme dar. […] Es wird nun beschrieben, dass ,,Genitalien“ nicht wie bislang angenommen durch wenige Chromosomen, Gene, Hormone bestimmt werden, sondern dass ein komplexes und insbesondere prozesshaftes Zusammenwirken zahlreicher Faktoren aus Zelle, Organismus und Umwelt für ihre stets individuelle Ausbildung notwendig ist. Die Faktoren wirken bei jedem Menschen individuell, verschieden zusammen.“ ¹

Auch führt dieses komplexe und individuelle Zusammenwirken dazu, dass die Geschlechtsmerkmale jedes ca. tausendsten Menschen nicht in die biologische Definition passen. Intersexuelle können daher seit 2018 die rechtliche Option ,,divers“ für sich in Anspruch nehmen und sind ein Beweis dafür, dass ein flüssiger Übergang zwischen beiden Geschlechtern besteht. ² Voß schließt daher:


,,Es wandeln sich also die Merkmale, die in biologischen Betrachtungen als vorgegeben und unabänderlich für ,,Geschlecht“ stehen. ,,Geschlecht“ auch ,,biologisches Geschlecht“ wird damit einmal mehr als gesellschaftliches Produkt augenscheinlich. ,,Geschlecht“ auch ,,biologisches Geschlecht“ ist wandelbar und es rückt so auch die Möglichkeit einer Gesellschaft ohne ,,Geschlecht“ in den Bereich des Denkbaren. Zumindest gibt es keinen, aber auch gar keinen Grund an ,,Geschlecht“, dieser gesellschaftlichen Kategorie/Institution, mit der historisch so viel Diskriminierung, Benachteiligung, Bevorteilung, Leid verknüpft war, weiterhin festzuhalten!“ ³


Doch so interessant und verlockend dieser Gedanke einer geschlechterfreien Gesellschaft auch sein mag, sollte er doch näher beleuchtet werden. Denn zunächst einmal mag die Definition biologischer Geschlechter eine Frage menschlicher Benennung sein, doch erfolgt sie nicht willkürlich, sondern aufgrund realer Unterschiede in der Physiologie und Psychologie. So stellen neue Geschlechterdefinitionen nur Verfeinerungen ihrer Vorgänger da und werden aufgrund neuer Erkenntnisse über biochemische Vorgänge unseres Körpers gebildet. Dabei zeugt gerade auch die Anerkennung der Intersexualität davon, dass keineswegs zwanghaft an einem binären Weltbild festzuhalten versucht wird, sondern wir uns durchaus der Grenzen unserer biologischen Definitionen bewusst sind. Doch dienen Kategorien immer nur der Reduzierung einer komplexen Realität – die sie infolgedessen nie einwandfrei abbilden können – und haben als solche durchaus ihre Berechtigung zur Modellierung und Erklärung – in diesem Fall biologischer Sachverhalte.


Und auch im gesellschaftlichen Kontext kann uns diese Komplexitätsreduzierung dienlich sein. Im Chor zum Beispiel, wo schnell in Männer- und Frauenstimmen unterteilt werden und somit ein besseres Klangergebnis erzeugt werden kann. Aber auch im Sport, wo die verschiedenen Physiologien unterschiedlich gute Leistungen ermöglicht und die Aufteilung für mehr Gerechtigkeit sorgen soll. Über Fälle in denen diese direkte Einteilung aufgrund von Intersexualität nicht gelingt, kann dann im Einzelnen anhand der für den jeweiligen Bereich (z.B. im Wettkampfsport) als relevant erachteten Faktoren (z. B. der Testosteronproduktion) entschieden werden (siehe Fall Caster Semenya). Und wer weiß, vielleicht werden diese Faktoren langfristig irgendwann das einzig Entscheidende Kriterium für die Aufteilung in verschiedene Wettkampfgruppen sein, ähnlich wie wir Boxen in unterschiedliche Gewichtsklassen unterteilen oder in manchen Fußballturniere Übergewicht zur Bedingung für die Teilnahme machen.4 Vielleicht werden wir sogar zu einem Punkt gelangen, an dem uns unsere Technologien auch ermöglichen unsere biologischen Faktoren zu verändern, doch bis dahin scheint mir die Anerkennung der Unterschiedlichkeit der drei Sexus (aus den genannten Gründen) eine sinnvolle und der Gerechtigkeit dienliche zu sein. Schwierig wird es erst dort, wo wir unsere biologischen Möglichkeiten durch kulturelle Zwänge und Rollenbilder einzuschränken beginnen, wie Yuval Harari auf den Punkt bringt:


,,Die Biologie lässt eine große Bandbreite von Möglichkeiten zu. Die Kultur zwingt ihre Angehörigen dazu, sich für eine kleine Auswahl dieser Möglichkeiten zu entscheiden.[…] Alles was möglich ist, ist definitionsgemäß auch natürlich.“ 5


Denn mein biologisches Geschlecht sagt nicht mehr und nicht weniger über mich aus, als meine biologische Zusammensetzung und welche Möglichkeiten ich damit habe und ist somit blind für meine Interessen, meine sexuelle Orientierung und meine Verhaltensweisen. Erst unsere kulturellen Normen, Rollenbilder und Zwänge etablieren gesellschaftliche Geschlechterrollen, die diese, durch meine Biologie zugelassenen und somit natürlichen, Ausdrucksmöglichkeiten einschränken. So behaupte ich:

Die biologische Geschlechtsdefinition lässt eine große Bandbreite von Möglichkeiten zu. Die gesellschaftliche Geschlechtsdefinition zwingt ihre Angehörigen dazu, sich für eine kleine Auswahl dieser Möglichkeiten zu entscheiden – und kann sich mit der Zeit verändern.





Das Gender: Subjektive und objektive Definition möglich


Leider hat die historisch enge Verknüpfung von biologischen Geschlechtern und den mit ihnen assoziierten gesellschaftlichen Rollen zur unglücklichen Entwicklung des Begriffes ,,soziales Geschlecht" (engl. Gender) geführt. Denn die hybride Verwendung des Wortes ,,Geschlecht“ als biologische und gesellschaftliche Kategorie sorgt für verschiedene Missverständnisse, wenn wir heute unter ,,das Geschlecht“ mal den Sexus, mal das mit ihm assoziierte Rollenbild (Geschlechterrolle) oder die eigene Zuordnung (Geschlechtsidentität) verstehen. Dies zeigt sich beispielsweise an folgender Wikipedia-Definition:


,,Das Wort Mann bezeichnet einen männlichen erwachsenen Menschen und bezieht sich im ursprünglichen Sinne auf das biologische Geschlecht, im modernen Sprachgebrauch auch [hervorgehoben durch den Autor] auf die Geschlechtsidentität, etwa bei transgender Personen, die sich als Mann identifizieren.“ 6


Diese zweifache Geschlechtsdefinition – nach Sexus und Identifizierung – sorgt jedoch für definitorische Unschärfe, da ich nach ihr gleichzeitig Mann (Sexus) und Frau (Gender) sein kann. Ein Versuch Klarheit in die genaue Definition zu bringen war es daher die Attribute cis (lateinisch is ,,diesseits“) und trans (lateinisch ,,jenseitig, darüber hinaus“) einzuführen, um zu attestieren, ob ich mich mit meinem Gender identifiziere (cisgender) oder nicht (transgender). Doch leider hat die mangelnde Differenzierung zwischen Sexus und Gender dazu geführt, dass wir eine folgenschwere Begriffsverdrehung zugelassen haben, die heute für viele Konflikte sorgt. Denn im ursprünglichen Sinn beschrieb das Gender gerade die mit dem Sexus assoziierte gesellschaftliche Rolle und nicht den Sexus selbst. Somit müsste der Begriff transgender eigentlich als ,,über das gesellschaftliche Rollenbild hinaus“ oder ,,aus dem gesellschaftlichen Rollenbild ausbrechend“ übersetzt werden. Eine transgender Frau wäre somit eine aus dem gesellschaftlichen Rollenbild austretende Frau und kein Mann und die Geschlechtsidentität entspräche der Geschlechterrolle anstatt dem Geschlecht. Das vielfältige Austreten aus der Rolle käme dann einem regelmäßigen Aufbrechen und Transformieren des sozialen Geschlechts gleich, bis dieses alle biologisch möglichen Ausdrucksformen enthalten würde.



Dies mag nur wie eine kleine Begriffsverdrehung klingen, die in ihren Konsequenzen jedoch nicht zu unterschätzen ist, da die Abkehr vom Sexus Fragen darüber aufwirft, wie ,,das Geschlecht“ definiert wird, wofür verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung stehen:

Einerseits könnten wir das Geschlecht durch neue objektive, vermutlich nicht mehr biologische und somit zwangsläufig die Verhaltensmöglichkeiten einschränkende, stereotypische Attribute definieren – Ganz im Sinne der ursprünglichen Bedeutung des sozialen Geschlechtes.


Beispiel:


,,Mann“ - spielt gerne Fußball - trägt kurze Haare ,,Frau“ - spielt mit Barbies - trägt lange Haare - liebt Männer


Die ,,große Bandbreite an Möglichkeiten“ die das biologische Geschlecht ermöglicht, würde so auf viele verschiedene Kategorien mit je ,,einer kleinen Auswahl dieser Möglichkeiten“ reduziert werden. Doch was würde mit Individuen wie X und Y geschehen, die Charakteristika verschiedener Geschlechter aufweisen oder bestimmte Bedingungen der Definitionen nicht erfüllen würden?


Individuum X - spielt gerne Fußball - trägt kurze Haare Individuum Y - hasst Fußballspielen - trägt kurze Haare - liebt Männer


Prinzipiell gäbe es drei Möglichkeiten auf diese Situation zu reagieren.

  1. Ausgeübter Zwang sich einer Kategorie anzupassen, wodurch Individualität unterdrückt und alte Rollenbilder aufrechterhalten bleiben würden.

  2. Die Schaffung neuer Geschlechter, bis es so viele Geschlechter wie objektive Identitäten gäbe, das Geschlecht in gewisser Weise also dem Namen entspräche. (Geschlecht 1: Mag Kaffee, Geschlecht 2: Mag keinen Kaffee, Geschlecht 3: Ist Kaffee gegenüber neutral).

  3. Eine Erweiterung der Geschlechtsbegriffe, sodass diese alle objektiven Identitäten einzeln aufgelistet (Geschlecht 1: Individuum A, B, C…) oder durch offenere Definition mit weniger Bedingungen (wie im Fall der Sexus) enthalten würden.


Geschlechtsidentität - radikal individualistisch


Diesen - entweder einschränkenden, hochkomplexen oder (zu) offenen - Möglichkeiten, das Geschlecht an objektiver Faktoren zu definieren, steht jedoch ein individualistischer Vorschlag entgegen, bei dem die Geschlechtsidentität zu einer Frage der eigenen Entscheidung, unabhängig jedweder sozialer Faktoren wird, wie Transgender Hannes Rudolph in einem SRF-Kultur-Interview klarstellt:


,,Egal wie eine Person aussieht, egal was sie mit ihrem Körper macht oder nicht macht, non binär bedeutet, ich identifiziere mich weder als Mann noch als Frau, zumindest nicht stabil und dauerhaft. Es gibt auch non-binäre Leute die wechseln, genderfluid oder so, das fällt mit in den Bereich. Oder es gibt Leute, die sagen: ,,Ich habe gar kein Geschlecht.“ Was die aber machen, wie die leben, was die für eine soziale Rolle ausführen oder so, das wissen wir nicht. Dieses non-binär bezieht sich wirklich nur auf die Identität.“ 7


Geschlechtsidentität wird demnach nicht, wie im Endstadium des obigen Falles, mit objektiver, sondern mit subjektiver Identität gleichgesetzt. Geschlecht wird das, was ich über mich selbst behaupte, und jegliche (biologischen wie gesellschaftlichen) Geschlechtsdefinitionen verlieren ihre Bedeutung. Das Gefühl ein Mann zu sein wird so unabhängig von jeglichen Vorstellungen davon, was ein Mann ist, kann weder von außen erkannt noch beschrieben werden und bedeutet für alle etwas anderes. Es ist ein gegebenes Faktum, das nur mir zugänglich ist: ,,Ich weiß einfach, dass ich ein Mann bin“ sowie ich – im Fall der Genderfluidität – morgen weiß, dass ich eine Frau bin, ohne dass sich irgendetwas außer diesem, einem Gefühl entspringenden Wissen ändern müsste. Doch distanziere ich mich damit nicht nur selbst vom Sexus, sondern fordere von anderen, es ebenfalls zu tun und mich entgegen ihres eigenen – ggf. biologischen – Geschlechterverständnisses so ansprechen, wie ich mich identifiziere. Der Spieß wird gewissermaßen umgedreht: Wo mich vorher die Gesellschaft in eine kleine Auswahl meiner biologischen Möglichkeiten zwingen wollte, fordere ich nun von der Gesellschaft mich in meiner eigenen Rolle anzuerkennen.



TABELLE




Das Spannungsfeld verschiedener Geschlechterverständnisse


Ein Spannungsfeld zwischen den verschiedenen Sprachverständnissen – dem privaten (individualistischen), dem biologischen und dem gesellschaftlichen (Rollenbilder) – entsteht, da alle ihre Begriffe unterschiedlich assoziieren. Der Konservative beschimpft das aus der gesellschaftlichen Rolle ausbrechende biologisch männliche Individuum damit, kein ,,richtiger“ Mann und ,,unnatürlich“ zu sein. Das Individuum, selbstverständlich diskriminiert und angegriffen, sucht Flucht in ein anderes Geschlecht, einen Platz, wo es sein kann, was es möchte und so akzeptiert wird, wie es ist. Die Bezeichnung ,,Mann“ wird als Angriff gegen die persönliche Identität empfunden und abgelehnt sowie die Abschaffung der biologischen Geschlechterkategorien gefordert (,,Alle sollen so sein dürfen, wie sie wollen!“). Die Gesellschaft reagiert, indem sie das Individuum nun zusätzlich damit provoziert, dass es auch keine Frau, sowie nach wie vor kein ,,richtiger“ Mann sei. Die Ablehnung des Geschlechterbegriffes im Individuum wächst und die Biologie schreit verzweifelt: ,,Trennt das Geschlecht von der gesellschaftlichen Kategorie! Es gibt keine ,,richtigen“ Männer! Denn alles was möglich ist, ist auch natürlich! Also verhaltet euch wie ihr wollt! Aber euer biologisches Geschlecht könnt ihr nicht wechseln, auch wenn wir an Wegen arbeiten das zu verändern.“

Der Konservative fühlt sich bestätigt (,,keine Frau!“), ohne auf die Kritik einzugehen (,,Kritik ist nur Meinung und ich habe eine andere“) und setzt seine Provokationen fort. Das Individuum hingegen versteht nicht, warum die Biologie so zwingend an ihrem Geschlechtsverständnis festzuhalten versucht (,,Es bringt ja doch nur Leid. Schaffen wir es ab.“). Doch die Biologie sagt:

,,Ich weiß, dass es schwer für dich ist, aber wir können unsere biologischen Kategorien nicht einfach abschaffen. Das würde uns ins Chaos stürzen. Wir können auch Menschen ohne Impfung oder Genesung nicht den Zutritt in ein 2G-Restaurant erlauben, nur weil sie sich als geimpft identifizieren. Denn diese ungleiche und ggf. als ungerecht empfundene Behandlung basiert nicht darauf, dass Genesene und Geimpfte über eine verstärkte Immunabwehr verfügen - denn das wissen wir - sondern darauf, dass wir Menschen mit unterschiedlicher Immunabwehr gesellschaftlich unterschiedlich behandeln. Das Virus wird ungeschützte Menschen nicht meiden, ganz gleich, was diese über ihr Immunsystem behaupten.”

Und das Individuum erwidert empört, dass das kein geeigneter und ein extrem unsensibler Vergleich sei, weil die Impfung eine Frage der Entscheidung sei und das Geschlecht ebenso veränderbar sein sollte. Und die Biologie stimmt zu und sagt: ,,Stimmt. Es sollte veränderbar sein, aber leider ist es das nicht. Wir können nur versuchen, das Beste aus der Situation zu machen. Und vielleicht werden wir irgendwann die Mittel haben deine biologische Zusammensetzung so zu verändern, dass du zu einer Frau wirst, so wie wir mit der Impfung dein Immunsystem verändern können, aber noch können wir das leider nicht.“



Der Grund für diesen Artikel

Ich habe lange mit mir gehadert, diesen Artikel zu schreiben, weil er eine sehr emotionsgeladene Thematik tangiert und eine nicht geringe Gefahr dahingehend besteht, dass dieser Text als Angriff auf Individuen interpretiert wird, die ihre Individualität auf (hoffentlich bald nicht mehr) unkonventionelle Weise auszuleben versuchen. Denn mir ist bewusst, dass diese Individuen trotz oder gerade wegen ihres Mutes mit sozialen Normen zu brechen, in vielen gesellschaftlichen Bereichen abschätzig behandelt werden, obwohl wir Cisgender viel von ihnen lernen könnten. So zweifle ich auch keineswegs an der Wichtigkeit sozialer Bewegungen wie der LGBTQ+Bewegung, die zu einem öffentlichen Bewusstsein, dem gezielten Aufbrechen sozialer Kategorien sowie einem kollektiven Zugehörigkeits- und Sicherheitsgefühl für, durch Diskriminierung betroffene Menschen, beitragen. Genauso weiß ich um die positiven Intentionen, die dem Versuch, durch das Auswechseln des Sexus mit der Geschlechtsidentität, Diskriminierungsstrukturen zu unterbinden, unterliegen und die auch von sehr vielen liebevollen Menschen in meinem Um- und Freundeskreis geteilt wird. Dennoch verunsichert mich – und da bin ich mit Sicherheit nicht allein – die resultierende Ersetzung von Begriffen mit intersubjektiv geteilter – im besten Falle wissenschaftlich-objektiver – Bedeutung durch rein subjektive Privatdefinitionen, die sich in der Transrace-Debatte bereits auf die (Identität der) Hautfarbe überträgt und mich in Abwehrhaltung gehen lässt. Auch bin ich unsicher, ob die Frage nicht am Kern des Problems vorbeigeht, wenn wir einerseits davon ausgehen, dass das Geschlecht nichts über den Charakter und Status des Menschen aussagt und wir andererseits zwanghaft eine, dem gefühlten Geschlecht entsprechende ,,korrekte“ Adressierung einzuführen versuchen. Ich glaube sogar, dass diese Entwicklungen die Akzeptanz anderer Geschlechterrollen erschwert, weil nicht die Personen als solche, sondern nur die in Willkür endende Veränderung der Sprache verurteilt wird. Dass diese Haltung aufgrund der langjährigen gesellschaftlichen Diskriminierung und des eigenen Geschlechtsverständnisses als verletzend empfunden wird, ist verständlich, zeigt jedoch, welche unglückliche Entwicklung die Gleichsetzung von Gender und Sexus mit sich gebracht hat, wenn wir heute Konflikte führen, die mit der eigentlichen Sache – nämlich einem freien Ausleben der Individualität – nichts mehr zu tun haben. Es sollte demnach wenig überraschend sein, dass ich aus all diesen Gründen für die Erhaltung des Sexus plädiere, da dieser als liberalster der drei Geschlechter-Begriffe (Sexus, Gender und Geschlechtsidentität) weder einen gesellschaftlichen Zwang auf das Individuum, noch einen individualistischen Zwang auf die Gesellschaft beinhaltet und eine funktionsfähige, gemeinsame Sprache erhält.

Nicht die Abschaffung des Sexus sollte demnach unser Ziel sein, sondern dieses sollte genauso unwichtig für unsere gesellschaftliche Identität (,,unser Gender“) werden, wie unsere Augenfarbe. Auch dort unterteilen wir in wenige fixe Kategorien, die wir in unseren Pass übertragen bekommen, obwohl ein flüssiger Übergang zwischen verschiedenen Farben existiert. Auch gab es eine dunkle Epoche in Deutschland, in denen die biologischen Faktoren blaue Augen und blondes Haar mit einer bestimmten gesellschaftlichen Rolle assoziiert wurden. Doch fällt uns die Trennung von biologischer und gesellschaftlicher Kategorie in diesem Falle leicht und kaum jemand – wenn nicht gar niemand – verspürt das Bedürfnis, deshalb Augenfarben abzuschaffen oder zu einer Frage der eigenen Entscheidung zu erklären. Wir halten an der Erfassung unserer Augenfarbe fest, weil das Problem nicht in der Existenz biologischer Unterschiedlichkeit, sondern ihrer kulturellen Interpretation liegt. Und vielleicht werden wir uns auch irgendwann keine geschlechterfreie Gesellschaft mehr wünschen, weil wir die mit dem Sexus assoziierten Geschlechterrollen durch regelmäßige (transnorme) Erweiterung vollends aufgebrochen haben. Dass der Weg dorthin lang ist, bezweifle ich nicht, doch scheinen mir alle anderen langfristig in die Irre zu führen.


Grafiken: Gabriel Bauer und Alexander Keller


Quellen:

¹ Voß, Heinz-Jürgen (2013): Biologisches Geschlecht ist ein Produkt von Gesellschaft, in Soziologie Magazin, Ausgabe 1, Seite 90f.

³ Voß, Heinz-Jürgen (2013): Biologisches Geschlecht ist ein Produkt von Gesellschaft, in Soziologie Magazin, Ausgabe 1, Seite 91

5 Harari, Yuval Noah (2013): Eine kurze Geschichte der Menschheit, 1. Aufl., München: PENGUIN Verlag, Seite 186

6 https://de.wikipedia.org/wiki/Mann (letzter Zugriff: 30.04.2022)

7 https://www.youtube.com/watch?v=y-EyKTsqSHc (letzter Zugriff: 30.04.2022), Minute 54




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